Einführung

Die karolingische Mark, von der aus im 9. Jahrhundert, nahezu unabhängig von der im kantabrischen Bergland Alt-Kastiliens einsetzenden Reconquista der »Spanier«, die Rückeroberung der Mittelmeerküste und ihres Hinterlandes begann, deckte sich zum Teil mit dem heutigen Katalonien. Die befestigten Orte nördlich der Pyrenäen und die dort hinführenden leicht zu verteidigenden Gebirgstäler boten Zuflucht, wenn die »fränkischen« Christen bedroht waren. Enge Beziehungen verbanden Barcelona und seine Umgebung (die Stadt wurde zu Beginn des 9. Jahrhunderts von Ludwig dem Frommen zurückerobert) mit der Provence.

Die Grafen von Barcelona gelangten im 12. Jahrhundert durch Heiraten in den Besitz Aragons und der Provence. Die Entstehung eines großen katalanisch-südfranzösischen Reichs beiderseits der Pyrenäen bahnte sich an, aber der Albigenser Kreuzzug setzte der Expansion nach Norden ein Ende. Der katalanische König Pere I. fiel in der Schlacht von Muret (1213). Das mit Katalonien eng verbündete Occitanien war jedoch das eigentliche Opfer des Kreuzzugs. Die katalanisch-aragonesische Föderation verlor zwar ihren König, verstärkte nun aber ihre Seemacht im Mittelmeerraum trotz der Konkurrenz der italienischen Seerepubliken und setzte sich in Sizilien, Unteritalien, Sardinien, sogar Athen und Tunis fest. Das Land, dessen kulturelles Leben sich zunächst in Klöstern wie Santa Maria de Ripoll, Sant Miquel de Cuixà, Sant Martí del Canigó abgespielt hatte, wurde jetzt zum Mittelpunkt einer blühenden Kultur. Erinnert sei nur an den auf Mallorca geborenen Ramon Llull (1235-1316) und den in Valencia beheimateten Ausiàs March (1397-1459). Als 1410 das Haus Barcelona erlosch, ging durch den Schiedsspruch der in Casp zusammengetretenen je drei Vertreter der Ständeversammlungen von Aragon, Katalonien und Valencia Ferdinand I., der Bruder König Heinrichs III. von Kastilien, als Sieger hervor. Die kastilische Dynastie besteigt damit auch den Thron Aragon-Siziliens. Die neue politische Konstellation auf der iberischen Halbinsel nach der Verschmelzung der Kronen von Aragon und Kastilien unter den Reyes Católicos Ferdinand und Isabella entzog der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Eigenständigkeit der iberischen Ostküste die Existenzgrundlage. Sie verlor ihre Autonomie und wurde nun zu einer Provinz der kastilischen Zentrale degradiert. Das Ergebnis war der Zerfall der kulturellen Selbständigkeit des katalanischen Bereichs, jener Vorgang, den spätere Historiker als decadència beschrieben. Während die kastilische Literatur im Siglo de Oro ihre weltliterarische Bedeutung erlangte, gab es in Katalonien nur noch regionalistisch beschränkte Dichtung, und bis zum 19. Jahrhundert änderte sich im wesentlichen nichts an dieser Lage.

Erst in der romantischen Bewegung wurde den kleinen Nationalitäten Europas ihre Geschichte und Vergangenheit wieder bedeutsam. Auf der iberischen Halbinsel standen dem wirtschaftlich unterentwickelten Binnenland die dynamischen Provinzen Kataloniens gegenüber. In Andalusien war der Boden in der Hand der Großgrundbesitzer, in Katalonien hingegen bebauten ihn die Besitzer der Maierhöfe (masies). Diese Agrarstruktur erleichterte den Anschluß an die industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts. In Kastilien galt Arbeit als entehrend. Für einen hidalgo, wie für jeden, der etwas auf sich hielt, war Tätigkeit in einem bürgerlichen Beruf nicht denkbar. In Katalonien hingegen wurde schon früh der Anschluß an die industrielle Entwicklung Europas gesucht. In Barcelona wurde bereits 1737 die erste Fabrik für Indiana-Baumwollstoffe gegründet, und 1773 waren es bereits achtzig. Zu Beginn der Französischen Revolution waren es hundertfünfzig, die von Vic, Manresa, Igualada und anderen Städten nicht mitgerechnet. Gleichzeitig wurde der mechanische Webstuhl eingeführt. Im 19. Jahrhundert besaß das Land also bereits eine Reihe kleiner Industriebetriebe, die sich an den von den Pyrenäen gespeisten Flüssen ansiedelten. Barcelona wurde Hauptstadt der Aktivität, Madrid blieb der bürokratische Schmarotzer, der sich von der Arbeit seiner wenigen nicht unterentwickelten Gebiete ernährte.

Die katalanische Erneuerungsbestrebung im 19. Jahrhundert, die Renaixença, beschränkte sich nicht auf bloße Folklore. Sie war zu verstehen als Wiedergeburt des politischen Selbstbewußtseins auf Grund der wirtschaftlichen Bedeutung. Renaixença bedeutete für die Katalanen Ahnliches wie für die Italiener des 19. Jahrhunderts das Risorgimento. In beiden Fällen ging es um ein politisches Problem. Der Gegensatz zwischen Katalonien und Kastilien wurde jetzt im Augenblick der Industrialisierung besonders deutlich.

Die Renaixença fand ihren augenfälligsten Ausdruck in den Jocs Florals, in den jährlich veranstalteten Sängerkriegen regionaler Dichter: »Dort trafen sich alle Visionäre der Geschichte, der Philologie, der Politik, der Folklore: geblendet durch ihre Vision tappten sie umher, trafen sich auf der Suche nach der katalanischen Sprache und gaben sich die Hände (Grundlage dieses Vergleichs ist der katalanische Volkstanz, die Sardana). Die einen kamen aus dem in fernen Jahrhunderten versunkenen Land der Trobadors und Chronisten und stammelten in süßer archaischer Sprache, die niemand verstand, andere hatten ihren Ursprung in modernen Vorstädten und einer rohen, aber lebendigen und farbigen Sprache, wieder andere kamen von Hörsälen und Akademien und bemühten sich, der jungen Literatursprache den Akzent von bereits ausgebildeten Kulturen zu geben und sprachen ein kastilisierendes Katalanisch oder eines mit Anklängen an das Italienische oder Französische ...« (Maragall). Nur eine außergewöhnliche dichterische Begabung konnte die Erneuerungsbewegung aus der Phase unsicheren Experimentierens herausführen.

Kataloniens großer Dichter des 19. Jahrhunderts wurde der 1845 im Hochland von Vic geborene Jacint Verdaguer, der 1877 mit seiner Dichtung L'Atlàntida Weltruhm erlangte. Verdaguer besaß eine visionäre kosmische Phantasie, die sein Weltschöpfungsgedicht mit einer unvergleichlichen Grandiosität beseelte. Urzeitliches Chaos wird dargestellt und dank einer souveränen Einbildungskraft bewältigt. Verdaguer ist der prophetische Seher und Sänger des Mythos Katalonien, seiner Topographie, seiner Sagen, Legenden und seiner Geschichte. Seine sprachlichen Mittel reichen von zarter Stimmungslyrik bis zum Pathos hymnischer Preisgesänge.

Joan Maragall (1860-1912), mit dem unsere Anthologie einsetzt, steht am Beginn der modernen katalanischen Lyrik. Aus dem Rückblick erhalten seine gesellschaftskritischen Analysen eine auch heute noch nicht überholte Aktualität. Bei unserer Auswahl ging es darum, die politische Entwicklung Kataloniens im Spiegel seiner Dichtung zu zeigen. Das erste von uns ausgewählte Gedicht Paternal (Vaterschaft) entstand 1893, als die ersten Bombenanschläge der Anarchisten in Barcelona Unruhe und Panik auslösten. Die Besucher des Liceu, der Oper von Barcelona, der Weihe- und Pflegestätte bürgerlicher Kultur und Gesinnung, haben ihre Ruhe und Sicherheit eingebüßt. Das Gedicht hält seismographisch eines der ersten Anzeichen der künftigen politischen und gesellschaftlichen Erschütterungen Spaniens fest. Maragall beschäftigte sich in den frühen neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit dem Werk Nietzsches. Das eindrucksvolle Bild des barbarisch lachenden satten Säuglings ist eine Reminiszenz aus dem Zarathustra, den der Katalane im gleichen Jahr in einem Zeitungsartikel vorstellte. In Spencer, Renan, Ibsen, Tolstoi und Nietzsche sah Maragall konvergierende Kräfte, die zum Untergang alter und in Mißkredit geratener Gesellschaftsformen führen mußten.

Mit welcher Sensibilität der Schriftsteller auf die Vorzeichen politischer Erschütterungen reagiert hatte, zeigte der Krieg von 1898, der zur Vernichtung der spanischen Flotte durch die Vereinigten Staaten und zum Verlust der letzten transatlantischen Kolonien und zur endgültigen Liquidation des einst mächtigen Weltreichs führte, über die Reaktion, die dieses Ereignis in Spanien auslöste, ist der deutsche Leser in der Regel über die Darstellungen und Äußerungen der »Generation von (18)98« unterrichtet: über Unamuno, Azorín, Baroja, Maeztu, Antonio Machado, Ortega y Gasset. Der Schock der Niederlage führte bei diesen spanisch schreibenden Intellektuellen zur Selbstbesinnung und zu einem kastilischen Nationalismus.

In Katalonien war der militärische Zusammenbruch ein weiterer Anlaß zur Überprüfung des Verhältnisses zur Regierung in Madrid. In Maragalls Oda a Espanya (Ode auf Spanien) wird mit Spanien und seiner Politik abgerechnet. Der Mangel an Wirklichkeitssinn, die Versponnenheit in gegenstandslose Chimären, eines der zentralen Themen des fast dreihundert Jahre früher entstandenen Don Quijote, und die daraus resultierende politische und wirtschaftliche Misere werden in diesem Gedicht an der konkreten Situation der Ausfahrt der Soldaten aufgezeigt. Das herausfordernde »Spanien, leb' wohl!« welches das Gedicht abschließt, ist die logische Folgerung aus den Überlegungen des Dichters.

Maragall schwebte damals eine große iberische Föderation vor, in denen die drei Sprachen der Halbinsel, Kastilisch, Katalanisch und Portugiesisch, gleichberechtigt nebeneinander bestehen sollten. Er hat sich über dieses Projekt wiederholt mit Unamuno unterhalten. Für den repräsentativsten Schriftsteller der »Generation von (18)98«, der selbst aus einer durch Minoritätenprobleme zerrissenen Provinz, dem Baskenland, stammte, war jedoch das katalanische Problem lediglich ein künstliches Problem. Es berührt merkwürdig, daß der scharfsinnige Interpret spanischer Mythen die Feststellung treffen konnte, die beiden größten lyrischen Dichter der iberischen Halbinsel der letzten hundert Jahre seien Verdaguer und Maragall gewesen, andererseits aber nicht wahrhaben wollte, daß sie dies auch dank ihrer Muttersprache und der Erneuerungsbewegung ihrer Heimat geworden waren. Unamuno versteifte sich darauf, in der katalanischen Frage nur separatistischen Starrsinn zu erblicken. Für ihn waren die Bewohner der Ostküste verspielte, kindliche Naturen, kreatürliche Wesen, die sich eigensinnig weigerten, die kastilische Sache zu der ihren zu machen.

Maragalls bedeutendstes politisches Gedicht die Oda nova a Barcelona (Neue Ode an Barcelona) wurde zunächst als Preislied an die dynamisch sich ausdehnende Stadt konzipiert. Infolge der Ereignisse, die in die katalanische Geschichte als Setmana Tràgica (1909), als Tragische Woche, eingegangen sind, wurde sie in ganz anderem Geist weitergeführt. Die Juli-Unruhen, die sich in offenem Aufruhr entluden und bei denen Kirchen und Klöster in Brand gesteckt wurden, waren zunächst eine Protestwelle gegen den spanischen Marokkokrieg. Die Truppen wurden in Barcelona eingeschifft, die Erinnerung an die Niederlage und die Opfer von 1898 lag auf der Hand. Vor der Redaktion der gegen den Krieg polemisierenden Zeitung El Poble Català kam es zu Sympathiekundgebungen für die Redakteure. Politische Agitation, zivile Erregung und anarchistische Emotionen führten zu den bereits erwähnten Ausschreitungen, die aus heutiger Sicht wie ein Präludium des Spanischen Bürgerkriegs erscheinen. Maragall blieb nicht bei spießbürgerlicher Entrüstung über das Geschehene, sondern fragte in seinen Artikeln nach den gesellschaftlichen Ursachen. Das katalanische Bürgertum stand damals zwischen zwei Fronten, zwischen der madrilenischen Politik und einer sich organisierenden Arbeiterklasse.

Der dichterisch nicht befriedigende Ausklang des Gedichts ist Maragalls Ovation an Antoni Gaudís großartiges Bauwerk der Sagrada Família, der Sühnekirche zu Ehren der Heiligen Familie:

»Die Stadt«, schrieb Maragall, »zeigt stolz allen Fremden ihren im Bau befindlichen Tempel, der Tempel adelt die materielle Ausdehnung der Stadt. Bald wird Barcelona die Stadt dieses Tempels sein, und es scheint so, als ob dieser Tempel nur um dieser Stadt willen da sein kann; sie gehören immer zusammen«.

Die franziskanische Komponente Maragalls fand ihren klassischen Ausdruck in seinem Geistlichen Lied, das im Winter 1909/10 entstand und unter anderen von Camus und Montale übersetzt wurde. In diesem Gedicht haben wir Maragalls geistiges Testament, zugleich aber auch ein Zeugnis für seine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Ideologien des neunzehnten Jahrhunderts. Die Kritik gegenüber Fausts Ungenügen am Augenblick ist für den Goethe-Übersetzer Maragall ein zentraler Ausgangspunkt seiner Polemik gegen Unrast und Unruhe, gegen romantisches Ungenügen und drängendes Weiterstürmen.

Jaume Bofill i Mates (1878-1933), der seine Gedichte unter dem Pseudonym Guerau de Liost herausgab, stilisierte sein literarisches Profil bewußt ins Mittelalterliche. Artistische Meisterschaft, spielerisch beherrschte Preziosität, Bewunderung für gotische Kunst und mittelalterliches Lebensgefühl sind Kennzeichen von Guerau de Liosts Dichtung und Haltung.

Die beiden von uns ausgewählten Satiren zeigen, wie Guerau de Liost in höchst origineller Weise die für die katalanische Literatur und Kunst des Mittelalters besonders kennzeichnenden Bestiarien für seine gesellschaftskritischen Satiren nutzbar machte. Die Vision des Menschen sub specie animalis ermöglicht eine Anthropologie sui generis. In der Literatura (Literatur) wird ein Vertreter einer mit naturwissenschaftlicher Distanz beobachteten literarischen Fauna dargestellt. Babel behandelt mit überlegener Ironie das Verhältnis des Geistes zur rohen Gewalt, es ist eine Verteidigung der Qualität gegenüber der Quantität.

Josep Carner (geb. 1884) eröffnete 1906 mit seinem Gedichtband Els fruits saborosos (Die schmackhaften Früchte) einen Abschnitt in der katalanischen Lyrik. Els fruits saborosos erschlossen der katalanischen Dichtung die Musikalität des französischen Symbolismus. Im gleichen Jahr erschien auch zum ersten Mal das Glosari (Glossar) von Eugeni d'Ors, für den die katalanische Frage vor allem darin bestand, das Mittelmeer zu entdecken. Der mediterrane Imperialismus von Eugeni d'Ors hatte eine Entsprechung in den Bestrebungen der Renaissance latine, die um die Jahr-hunderwende von südfranzösischen Schriftstellern und Künstlern proklamiert wurde. Das Manifest La Nacionalitat Catalana (Die katalanische Nationalität) des Politikers Prat de la Riba (1870-1917) erschien ebenfalls 1906. Prat de la Riba ging in seiner Streitschrift von der Feststellung der künstlichen Einheit des Staats und der organischen der Nation aus und begründete darauf seine föderalistische Staatsauffassung. Anschluß an die große französische Lyrik des fin de siècle mit Carner, Öffnung zum Mittelmeer mit Eugeni d'Ors, Föderalismus mit Prat de la Riba: Katalonien hatte damit ein Programm verwirklicht, das den Bestrebungen der «Generation von (18)98», die mit Unamuno Europa hispanisieren wollte, diametral entgegensteht.

Carners hohes politisches Verantwortungsbewußtsein (der heute fünfundachtzigjährige ehemalige Diplomat hat es sich versagt, in das Spanien Francos heimzukehren), seine stoische Haltung gegenüber den Wechselfällen der Geschichte, ist in den Versen Si em vaga (Wenn ich noch Zeit habe) konzis und einprägsam formuliert. Carner erscheint in diesem Gedicht, das durch die Übersetzung viel von seiner knappen und harten Fügung verliert, in der Haltung eines alttestamentarischen Propheten. Der Dialog, das andere von uns ausgewählte Gedicht, ist ein Beispiel für die Selbstreflexion, welche die reiche Tradition katalanischer Gedankenlyrik kennzeichnet. Die beiden Proben können keine Vorstellung von dem Umfang der lyrischen Produktion Carners, seinem Melos und der Spannweite seines sprachlichen Könnens vermitteln, aber sie sind ein Ausdruck für das Ethos dieses Schriftstellers, der seit mehr als sechs Jahrzehnten die katalanische Lyrik entscheidend prägt.

Jordi Sarsanedas erinnert sich in seinem Petit Monument a Joan Salvat-Papasseit (Kleines Denkmal für Joan Salvat-Papasseit) an den im Alter von 30 Jahren Verstorbenen als den Dichter der feina, der Arbeit. Salvat-Papasseit ist der Sänger des Alltags, des Handwerks, des Hafens, der kleinen Welt der Arbeiter und Angestellten. Sinn für das Abenteuer, mitten im Alltag, Freude am Augenblick, lyrisch erfüllte umgangssprachliche Formen, erzählerische Komponenten im Gedichte sind Merkmale von Salvat-Papasseits Dichtung. Sein Werk ist frei von dem Grau-in-grau sozialistischer Programmdichtung. Die avantgardistischen Experimente, die er mit seiner ersten Gedichtsammlung Poemes en ondes hertzianes (Gedichte in Hertzwellen) einleitete, wirken heute eher altmodisch. Die typographischen Neuerungen und Einfälle sind nicht der originellste Aspekt seiner Lyrik. Sie sind ein Zugeständnis an Futurismus und Dada. Salvat-Papasseit war kein kritischer Kopf. In einer Schrift über seine Auffassung vom Dichter, Concepte del poeta, versteht er sich als den Mann der Begeisterung. Enthusiasmus war der Ausgangspunkt von Salvat-Papasseits Lyrik. In den Augenblicken echter Inspiration verdanken wir ihr seinen optimistischen Überschwang. Begeisterung konnte bei ihm allerdings auch kritiklose Bewunderung für das scheinbar Neue bedeuten. Salvat-Papasseit verklärte mit seiner naiven Freude über alles Bestehende die Welt, die ihn umgab. Von ihm geht jene zuversichtliche Dichtung eines Jordi Sarsanedas und Miquel Martí Pol aus, welche unsere Anthologie beschließt. Was für Franz von Assisi die Tiere seiner mittelalterlichen Umgebung waren, sind für diese modernen Dichter Handwerkszeug und Maschinen. Arbeit, feina, wird nicht mehr verstanden als Fluch, sondern als Besitznahme der Welt, als eine Neuschöpfung der eigenen Umgebung.

Carles Riba (1893-1959), ein Jahr vor Salvat-Papasseit geboren, stellt eine spätere Phase katalanischer Lyrik dar. Daher steht er hier nach Salvat-Papasseit. Dieser Dichter, der mit den griechischen Schriftstellern in gleicher Weise vertraut war wie mit den Klassikern der Neuzeit, der Homer, Aischylos und Sophokles ins Katalanische übersetzte und Goethe und Hölderlin las und kommentierte, hat ein umfassendes Werk hinterlassen, dessen Erschließung erst begonnen hat: Humanist und Moralist, Christ und Antifaschist, eine Erscheinung, die den Beruf des Dichters mit einem neuen Charisma versah.

Das erste der von uns ausgewählten Gedichte entstand 1922 und ist ein Zeugnis einer noch postpubertären Unruhe auf der Suche nach dem eigenen Standort, die Kompositionstechnik ist noch nicht frei von einem gewissen Mechanismus.

Die Abkehr von einer noch subjektiven Thematik wird deutlich in dem Gedicht Soldaten (7.8.1934), einer knappen und eindringlichen Darstellung der spanischen Situation am Vorabend des Bürgerkriegs. Wieder einmal - wie schon bei Maragall - ist die Kluft zwischen dem rhetorischen Anspruch, mit dem das Heer auftritt, und dem Schicksal, das den Horizont bestimmt, zentrales Thema.

Die zwölf Elegien von Bierville, die zwischen Juni 1939 und August 1942 in Frankreich entstanden, sind Kataloniens bedeutendster Beitrag zur Exilliteratur des 20. Jahrhunderts. Vom Formalen her versuchte Riba hier Ähnliches wie Goethe mit den Römischen Elegien, auf die sich der Katalane ausdrücklich beruft. Die Gedichte, deren erster Vers sich jeweils, wenn man Ribas Vorwort Glauben schenken darf, zu seiner Überraschung und Verwunderung plötzlich einfand, und deren letzter Vers ausnahmslos unerbittlich die Grenze zum Schweigen hin bestimmte, sind das Ergebnis einer menschlichen Krise, die im Exil ihre befreiende Lösung fand. Für Riba begann in der Emigration die Odyssee der Selbsterkenntnis und der Selbsterneuerung. Er erlebt seine subjektive Not und seine Einsamkeit stellvertretend für sein Volk, dessen bedeutendste Stimmen aus der Heimat verdrängt und vertrieben wurden.

Salamis, zu Beginn der von uns ausgewählten neunten Elegie, steht als Chiffre für das Freiheitsideal der abendländischen Welt, Chaironea für den Verlust dieser Freiheit (es sei daran erinnert, daß hier das verbündete Heer der Athener und Thebaner 338 von Philipp von Mazedonien besiegt wurde). Die Elegie mit ihrer Schlußvision der Besiegten, die sich als Soldaten wiederfinden, ist zugleich eine Palinodie des vorausgehenden Gedichts. Die Soldaten dieses abschließenden Verses sind nicht mehr die desorientierten Opfer eines fremden Apparats, sondern selbstbewußte Streiter im Zeichen der Hoffnung.

Im Gegensatz zur naiven Lebensfreude von Joan Salvat-Papasseit gibt J. V. Foix eine intellektuell hochgezüchtete und zugleich dionysisch überschwengliche Variante der avantgardistischen Literatur. Foix' literarischer Raum ist die topographisch genau fixierbare Landschaft der Costa Brava, am Cap de Creus und bei Port de la Selva. Foix erfüllt diese mediterrane Landschaft mit phantastischem Leben, er blendet prähistorische Bilder und scharf umrissene Tagträume ein. Die meisterhafte Beherrschung rhetorischer Mittel ermöglicht ihm die Schaffung eines manieristischen literarischen Labyrinths. Die umfangreichen Titel der Gedichte geben die Sproßformen der Gedichte. Und doch stehen das artistische Können, die Magie des bildhaften und rhythmischen Baus durchaus im Dienst einer polemischen Haltung, einer unter dem Eindruck der spanischen Situation entstandenen Gesellschafts- und Selbstkritik. »Motoren ohne Hoffnung« und der Ruf nach dem Caesar haben konkreten Bezug auf die Lage Kataloniens am Ende des Bürgerkriegs. Der Surrealismus von Foix ist nicht Selbstzweck, kein literarisches Spiel, sondern ein Mittel um die Wirklichkeit zu entlarven. Wenn auch die Revolution frustriert wurde, so bleibt immer noch die Aggressivität der Bildersprache. Subjektivismus, angesichts der Regierungsform, die Kataloniens Schicksal auf Jahrzehnte hinaus prägen sollte, bedeutet in der spezifischen Situation des Landes Widerstand und Protest, die Weigerung sich integrieren zu lassen.

Im Nachwort zur Ausgabe der Obra de Pere Quart erinnert Joan Oliver an dessen literarische Herkunft von Guerau de Liost. Das von uns aus dem Bestiari (Bestiarium) ausgewählte Porc (Schwein) erinnert geradezu an die Karikaturen von G. Grosz. Dieser Zug unterscheidet ihn von den ästhetisierenden Intentionen Guerau de Liosts, welche die satirischen Komponenten von dessen Werk auffangen und stilisieren.

Die Ode an Barcelona entwickelt im Zeichen des Bürgerkriegs ein von Verdaguer und Maragall behandeltes Thema weiter. Mit den surrealistischen Elementen des Gedichtanfangs wird Apokalyptisches eingeführt. Die Schilderung der in die Villen vordringenden Arbeiter gehört zu den eindringlichsten Darstellungen des Bürgerkriegs. Und wie schon bei Maragall schließt eine utopische Zukunftsvision das Gedicht ab.

Mit dem Gedicht Noè aus der Sammlung Terra de Naufragis (Land der Schiffbrüche) gelang Pere Quart die Transposition der Bildersprache romanischer Kapitelle in die zeitgenössische Dichtung. Unpathetischer, eindringlicher konnte die katalanische Misere nach dem Bürgerkrieg nicht dargestellt werden.

Salvador Espriu ist heute, mit Pere Quart, der repräsentativste lebende katalanische Schriftsteller. Der Dichter wuchs zwischen Barcelona (wo sein Vater als Notar tätig war) und Arenys de Mar (wo seine Familie beheimatet ist) auf. Wahrscheinlich wäre dieser typische Bürger ohne den Schock des Spanischen Kriegs lediglich der elegische Sänger seiner Klasse geworden.

Mit größter Kohärenz vermaß Espriu die Topographie seiner lyrischen Welt und die Welt seiner Symbole. Dieser am Mittelmeer beheimatete Dichter ist geradezu besessen vom Gedanken an den Tod. Der Verfasser des Cementiri de Sinera (Friedhof von Sinera) hat in diesem Ortsnamen das heimatliche Arenys in einem leicht durchschaubaren Anagramm verschlüsselt.

Die von Espriu bemühte Mystik Meister Eckarts und des Nikolaus von Cues, »das reine Nichts«, in dem zugleich »das höchste Vermögen« liegt, das es geben kann, können eine Vorstellung vermitteln von dem schmalen Grat, auf dem er sich angesiedelt hat. Es gibt kaum einen Dichter, der Unamunos Klischee vom kindlich heiteren Katalanen weniger entspricht als Espriu. Sein Lieblingssymbol ist der Regen, und zentral in seinem Werk ist der Mythos vom Labyrinth: El Minotaure i Teseu (Der Minotaurus und Theseus) heißt eine Gedichtsammlung, Final del Laberint (Ende des Labyrinths) eine andere. Ratlosigkeit und Resignation breiten sich im Werk Esprius immer wieder aus. Das Engagement wird oft hinweggespült durch das obsessive Gefühl der Vergänglichkeit.

In dem dritten der von uns ausgewählten Gedichte wird die Hoffnung auf eine Änderung durch ein verzagtes »Wer weiß« wieder zurückgenommen, ehe sie formuliert wird. Dabei fehlt es bei Espriu nicht an gelungenen satirischen Gedichten (Redemptor mundi), an politischem Protest, wie in dem Bild des fremden Lumpensammlers. Espriu ist ein außergewöhnlicher Meister der Form: die an Buñuels Filme erinnernde Szene von dem Bettlerschwarm im hellen Licht des Mittags kann im Rahmen unserer Auswahl am ehesten eine Vorstellung von der Eindringlichkeit seines formalen Könnens vermitteln.

Es ist erstaunlich, wie es diesem zunächst vor allem zu privater, abseitiger hermetischer Lyrik berufenen Dichter doch immer wieder gelingt, die ihm scheinbar gesetzten Grenzen zu durchbrechen und zur Stimme seines Landes zu werden. Espriu glaubt, wie schon Maragall, daß die katalanische Frage, wie immer sie gesehen wird, vor allem auch eine iberische Frage ist. Daher der Titel seiner umfangreichsten Gedichtsammlung La Pell de Brau (Die Stierhaut).

Wie jung und aktuell dieser Schriftsteller blieb, zeigt die Tatsache, daß seine Verse heute von dem Katalanen Raimon in überfüllten Sälen gesungen werden.

Gabriel Ferrater ist derjenige unter den katalanischen Lyrikern, der seinen Umgang mit den Klassikern (und Klassiker sind für katalanische Schriftsteller zunächst immer einmal die großen Dichter der mittelalterlichen Literatur) für seine gesellschaftskritische Polemik nutzbar macht. Ferrater betrachtet seine umfassende literarische, politische und historische Bildung als Arsenal, aus dem er sich Waffen für seine zeitkritischen Nahkämpfe holt. Die russische Revolution wird bei ihm zum Paradigma, zum inzwischen bereits mythischen Vorbild für den potentiellen Revolutionär von heute, und mühelos erkennt man hinter dem Mittelalter-Pastiche des ausgewählten Gedichts zeitgenössische Gestalten und Situationen.

Jordi Sarsanedas, der sich bewußt an Salvat-Papasseit anlehnt, setzt die durch den Dichter der Straßen und Arbeiterviertel geschaffene Tradition fort. Vitalität als Voraussetzung für die Beherrschung der modernen Technik, Menschen, die sich die Erde Untertan machen: das ist seine Botschaft, wie auch die des 1929 geborenen Miquel Martí Pol.

Dieser stammt aus Roda de Ter, aus jener für die katalanische Literatur so wichtigen Plana de Vic zwischen Barcelona und den Pyrenäen. Er veröffentlichte fünfundzwanzigjährig seinen ersten Lyrikband Paraules al Vent (Worte im Wind) 1954, Gedichte mit religiöser Thematik, von der er sich dann unter dem Einfluß des Marxismus löste. Diese ideologische Neuorientierung erlaubte es ihm, sich künftig nicht mehr in den Dienst religiöser Thematik zu stellen, sondern sich diese dienstbar zu machen. La Creació (Die Schöpfung) ist ein Zeugnis für diese neue Haltung. Schöpfungsgeschichte als Autobiographie, als Paradigma der eigenen Existenz, wie jener der Gemeinschaft. Es spricht für die Folgerichtigkeit in Martí Pols Entwicklung, daß er seinen letzten 1966 erschienenen Gedichtband unter dem Titel El Poble (Das Dorf) vorlegte. Für den heute Vierzigjährigen gehört der Bürgerkrieg zum Horizont der Kindheit. Die Antwort dieser inzwischen herangewachsenen Generation, zu der auch Sarsanedas gehört, auf die durch ihn angerichtete Verwüstung, kann nur die Schöpfung einer neuen sozialen Gemeinschaft sein.